Engagement mit Langzeitwirkung

Am Anfang stand eine schlechte Nachricht. 1995 musste Eleonore Wikary krankheitsbedingt frühzeitig in Rente gehen. Seitdem bietet sie Gymnastik zur Osteoporose-Prävention an. Ihre älteste Mitturnerin ist 92 Jahre alt.

Von Elisabeth Gregull

Die Berlinerin Eleonore WikaryJeden Mittwoch gegen 10 Uhr spielen sich die gleichen Szenen ab. Seit 17 Jahren. Die Orte haben gewechselt, aber eine Frau ist immer zur Stelle: Eleonore Wikary. Kurze graue Haare, die wachen grünen Augen der 71-Jährigen scheinen alles im Blick zu haben. Nach und nach kommen ältere Damen in das Evangelische Gemeindehaus in Spandau. Eleonore Wikary begrüßt sie mit ihrer klaren Stimme und im typischen Berliner Akzent, die Frauen umarmen sich, ein Küsschen auf die Wange, ein Streicheln über den Arm. Je mehr eintrudeln, umso mehr steigt der Lärmpegel. Denn die Fragen „Wie geht es? Wie war die letzte Woche bei Dir?“ stoßen auf reges Mitteilungsbedürfnis und reges Interesse gleichzeitig. Es wird viel gelacht. Die Frauen sind im Schnitt zwischen 75 und 90 Jahre alt. In diesem Augenblick wirken sie eher wie eine Jugendgruppe – und sind genauso laut.

Aus dem Rollstuhl in die Gruppenleitung

„Hier muss man sich durchsetzen, damit man überhaupt anfangen kann“, grinst Eleonore Wikary. „Und das ist ja ein Zeichen, dass die sich alle freuen, hierherzukommen. Und das sagen einige auch deutlich: Wir freuen uns die ganze Woche auf den Tag.“ Was heute eine Selbstverständlichkeit scheint, begann 1994 mit einer schlechten Nachricht.

Damals hatte Eleonore Wikary starke gesundheitliche Probleme, die Diagnose war letztlich Osteoporose. Sie wurde krankgeschrieben. Für eine gewisse Zeit war sie sogar auf einen Rollstuhl angewiesen, weil sie nur ein paar Minuten laufen konnte. „Ich hörte nur negative Sachen von dieser Untersuchung und jener Untersuchung. Dann bin ich zum Fördererverein rüber und habe mich dort erst mal um eine Schwimmgruppe gekümmert. 1995 wurde ich dann krankheitsbedingt berentet.“

Damit begann ein neuer Lebensabschnitt – und Eleonore Wikary wollte sich nicht unterkriegen lassen. Durch Medikamente, Ernährungsumstellung und nicht zuletzt spezielle Osteoporose-Gymnastik hat sie sich nach und nach wieder aufgebaut. „Dann hat mich der Fördererverein nach Bad Pyrmont geschickt. Und dort habe ich ein Zertifikat erworben, dass ich Gruppen wie diese Osteoporose-Gruppe anleiten kann. Und so fing alles an, mit sechs bis acht Älteren. Wir hatten einen kleinen Raum beim Fördererverein.“ Aus den acht Teilnehmenden wurden im Laufe der Zeit 80, verteilt auf drei Gruppen. Doch eine Sache war Eleonore Wikary stets wichtig – und sie glaubt, dass sich ihr Ansatz über die Jahre ausgezahlt hat: „Ich habe gleich zu Beginn darauf geachtet, dass sich keine Cliquen bilden. Das war mir wichtig, auch dass die Leute nicht übereinander reden. Das hat am Anfang ganz schön Kraft gekostet.“

Urlaub vom Alltag im BSR-Freizeitheim am Wannsee

Doch nicht nur das kostete Kraft – bald schon musste Eleonore Wikary einen neuen Raum suchen, denn der Verein brauchte seinen Raum selbst. Ausgerechnet um die Weihnachtszeit, wo man eigentlich andere Dinge zu tun hat, meint sie etwas genervt: „Aber dann hatte ich einen Glücksengel. Der Direktor der Christian-Morgenstern-Grundschule hat uns einen Raum zur Verfügung gestellt.“ Die Lösung war da, doch mit einem Haken: Die Räume konnten nur zur Mittagszeit genutzt werden. Eine Zeit also, in der ältere Menschen sich lieber ausruhen statt Sport zu treiben.

Also suchte Eleonore Wikary weiter, nach zwei Jahren war sie erfolgreich. Sie nutzte ihre Beziehungen zur BSR und die stellte dann ihr Freizeitheim am Wannsee zur Verfügung. „Allerdings wurde mir zur Auflage gemacht, dass ich auch eine Gruppe für deren Pensionäre und Rentner mache“, lacht Eleonore Wikary. Und so entstanden mit der Zeit drei Osteoporose-Gruppen – eine vom Fördererverein organisierte und zwei Selbsthilfegruppen. Um die 80 Menschen waren damals dabei. „Die Zeit, als wir das Freizeitheim nutzen konnten, war traumhaft“, schwärmt Eleonore Wikary. „Bei gutem Wetter haben wir Sport auf der Wiese gemacht, von den Dampfern haben sie uns zugewunken. Wir konnten das ganze Areal nutzen, auch für die Weihnachtsfeiern.“ 2001 wurde das Heim dann geschlossen – Eleonore Wikary war wieder auf Raumsuche. Diesmal wurde sie im Evangelischen Gemeindehaus fündig, im Pilnitzer Weg 8, wo sich die Gruppen seitdem treffen. Wie heute die „Mittwochsgruppe“, deren älteste Teilnehmerin 92 Jahre ist.

Selbsthilfe mit Langzeitwirkung

Osteoporose-Präventions-Gruppe mit Eleonore WikarySeit über zehn Jahren begleitet die Krankengymnastin Marina Winkel die Osteoporose-Gruppen. Eleonore Wikary findet es wichtig, auch eine Fachkraft dabei zu haben. „Denn einige Leutchen sind ja schon sehr krank“, erklärt sie. Krankengymnastin und Raummiete werden über einen kleinen Obolus der Teilnehmenden finanziert. Marina Winkel muss jetzt schauen, dass die Gespräche vorläufig enden und sich alle auf ihre Stühle in dem großen Kreis setzen. Dann stellt sie die Musik an und beginnt mit einer leichten Aufwärmübung.

Eleonore Wikary war 54 Jahre alt, als sie anfing, die Gruppen aufzubauen. Sie leitete die Gruppen bis vor einiger Zeit noch selbst. Das heißt, sie kümmerte sich nicht nur um die organisatorischen Sachen, sondern sie turnte auch vor. Inzwischen hat die 71-Jährige aber eine Lungenerkrankung, die sie dazu zwang, das Vorturnen nach und nach ganz in die Hände von Frau Winkel abzugeben. „Ich turne zwar immer noch mit, aber als ganz normale Teilnehmerin im Kreis kann ich auch mal schummeln, wenn ich schlapp bin. Meine Lunge ist jetzt mein Handicap. Ich mache noch die Urlaubsvertretung von Frau Winkel, aber das strengt mich ganz schön an.“

Nach dem Aufwärmen liegt der Schwerpunkt der Gymnastik beim Muskelaufbau, um die Knochen zu entlasten. Koordination und Konzentration, leichtes Herz-Kreislauf-Training gehören auch dazu. Ab und an sprechen sie in der Gruppe über Ernährung. „Meine Osteoporose ist altersbedingt fast gut“, kann Eleonore Wikary heute sagen. „Das ist ein Zeichen, wenn man sich umstellt, bewegt – ich habe ja Aqua-Fitness gemacht und drei mal die Woche eine Stunde Gymnastik. Wenn man dementsprechend lebt, kann man die Osteoporose ausheilen. Nicht 100 Prozent, aber so, dass es nicht gefährlich ist. Dass man nicht bei jedem Stolpern Brüche hat.“

„Ich bin überhaupt nicht der Typ, der den Mund hält“

Eine Etage höher, im Kiezcafé der Kirchengemeinde, sitzt Eleonore Wikary nach der Gymnastik auf der Terrasse. Neben ihr steht eine schwarze Tasche mit dem bunten Logo des Förderervereins, für den sie nun seit 17 Jahren die „Mittwochsgruppe“ ehrenamtlich organisiert. „Ich muss ja auch immer viel rumschleppen“, sagt sie und meint damit die Teilnahmelisten und sonstigen Unterlagen, die nötig sind. Diese Arbeiten liegen der ehemaligen Verwaltungsangestellten. Ihre Erfahrungen kommen ihr zugute – und haben ihr einen weiteren ehrenamtlichen Job eingebracht. Jeden Donnerstag hilft sie im Gemeindehaus bei der „Berliner Tafel“. Die zunehmende Altersarmut, die sie im Kiez täglich beobachtet, erlebt sie dabei in zugespitzter Form.

Seit acht Jahren ist sie einmal die Woche dabei, sie verwaltet die Karteikarten. Dort werden die Dokumente registriert, die vorzulegen sind, damit jemand gegen 1 Euro Lebensmittel mit nach Hause nehmen kann. Dass es in der ehrenamtlichen Arbeit zu Konflikten kommt, zwischen den beteiligten Organisationen, aber auch zwischen den einzelnen Engagierten, das hat sie auch erlebt. Und sie räumt ein, dass sie nicht der Typ ist, der sich dann gleich zurücknimmt: „Die ersten zwei Jahre gab es ganz schön Reibungspunkte auch zwischen uns. Jeder wollte sich einbringen und hat sich besonders gefühlt, logisch. Und auch meine Person, ich habe auch nicht den Mund gehalten. Ich bin überhaupt nicht der Typ, der den Mund hält“, sagt sie lachend. „Und was mir nicht gefällt, das sage ich auch laut.“

Ihre direkte Art, ihre klaren Worte, ihr Durchsetzungswille und ihre Beständigkeit – das zeichnet die gebürtige Berlinerin aus. Das mag in Streitfällen für andere nicht einfach sein. Doch ohne ihren Kampfgeist hätte es auch die drei Osteoporose-Gruppen nicht gegeben.

„Alle Ärzte haben gesagt: mach weiter“

Und da ist noch etwas Anderes, was Eleonore Wikarys Engagement bestimmt. Es ist etwas in ihrer Haltung, das diese drei Gruppen zu mehr gemacht hat als Gymnastik-Gruppen. Wenn jemand aus der Gruppe Geburtstag hat, gratuliert sie persönlich. Wenn jemand krank wird, geht sie auch zum Besuch ins Krankenhaus: „Das ist nicht meine Pflicht, das gehört nirgendwo dazu, aber das mache ich halt. Das ist, was ich meine, da merken sie den anderen Zusammenhalt, das ist nicht nur eine Gruppe. Das ist mehr. Das ist schlecht mit Worten zu bekleiden, aber das merkt man schon am Klima beim Reinkommen. Das ist woanders nicht so.“

Nachwuchssorgen haben Eleonore Wikary und Marina Winkel nicht, im Gegenteil. Momentan raten sie den Teilnehmenden, keine Werbung mehr zu machen, sonst wird es zu eng in dem Raum. Ein Großteil kommt schon seit vielen Jahren, manche aus anderen Bezirken. Bekannte wurden mitgebracht, andere werden von Ärzten geschickt. Und wer dazustößt bleibt in der Regel so lange, wie es gesundheitlich geht.

Ganz am Anfang, vor 17 Jahren, musste Eleonore Wikary ihren „inneren Schweinehund“ überwinden, wie sie es nennt. Musste gegen die Schmerzen ankämpfen, um sich selbst und dann mehr und mehr anderen zu helfen. „Auf eine Art hält es einen ja auch frisch“, meint sie, wenn sie zurückblickt. Und wenn manches auch Kraft kostet, so bekommt sie doch viel zurück. Das spürte sie besonders, als sie einmal privat in einer schwierigen Situation war: „Ich habe vor sechs Jahren meinen Mann verloren. Da waren es die Gruppen, die mich aufgefangen haben. Alle Ärzte haben gesagt: mach weiter. Sonst klappst Du zusammen, Du brauchst das.“

 

Foto: Elisabeth Gregull

September 2013

 

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