Willkommenskultur für Geflüchtete von unten

Als es 2013 in Marzahn-Hellersdorf zu Protesten gegen ein neues Flüchtlingsheim kommt, gründet sich das Netzwerk „Hellersdorf hilft“. Rund 20 Engagierte setzen sich für eine lokale Willkommenskultur für Geflüchtete und gegen rechte und rassistische Hetze ein.

Von Elisabeth Gregull

Banner Refugees WelcomeStephan Jung und Luisa Seydel haben sich über Facebook kennengelernt. Aber der Anlass war keine normale Freundschaftsanfrage oder Party. Als 2013 in Marzahn-Hellersdorf eine Unterkunft für Geflüchtete eröffnet werden sollte, kam es zu massiver Hetze gegen das geplante Heim. Und das nicht nur bei Kundgebungen. Gerade auch in sozialen Medien wurde gezielt Stimmung gemacht. Stephan Jung und Luisa Seydel waren schockiert. Gemeinsam mit anderen versuchten sie – ebenfalls in sozialen Netzwerken – mit sachlichen Informationen gegen die rassistische Stimmungsmache zu argumentieren. Doch dabei ist es nicht geblieben – sie schlossen sich mit Gleichgesinnten im Netzwerk „Hellersdorf hilft“ zusammen und begannen, praktische Hilfe für Geflüchtete im Alltag zu organisieren. Unter den Engagierten sind viele junge Leute. Sie haben seitdem Sachspenden gesammelt und Hilfsangebote organisiert.

Aus der Initiative wird ein Verein

Aus der Hilfe erwuchs schon bald ein politisches Bewusstsein. „Das war bei uns eine ganz interessante Entwicklung“, erzählt Luisa Seydel. „Weil viele von uns mit dem Thema ‚Flucht und Asyl’ vorher gar nichts zu tun hatten und gedacht haben, das ist unmöglich, wie hier gegen die Flüchtlinge gehetzt wird. Dann haben sie angefangen sich zu engagieren und in diesem Engagement erst mitbekommen, wie die Lebensrealität für Geflüchtete eigentlich ist hier in Berlin und auch in Deutschland – und haben dann erst angefangen, dieses System zu kritisieren.“

‚Dieses System’ – damit sind deutsche Asylregelungen wie die Residenzpflicht, das Arbeitsverbot und die Unterbringung in Sammelunterkünften gemeint. „Hellersdorf hilft“ kritisiert das deutsche Asylsystem und fordert einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten. Und die rund zwanzig Engagierten wollen mit kleinen Schritten im Alltag eine lokale Willkommenskultur aufbauen und ein Zeichen setzen gegen verbreitete Vorurteile und rechte Hetze. „Wir möchten, dass unsere Arbeit langfristig wirkt und keine Eintagsfliege bleibt“, erklärt Stephan Jung. „Deswegen sind wir den Schritt gegangen, ganz offiziell einen Verein zu gründen.“

Und so konnte „Hellersdorf hilft e.V.“ im Sommer mit Unterstützung der Wohnungsbaugesellschaft „Deutsche Wohnen“ auch die Begegnungsstätte „LaLoka“ für „Menschen mit und ohne Fluchterfahrung“ eröffnen. Die Räume sind nur ein paar Gehminuten vom Heim entfernt. „Wir wollten einen Ort der Begegnung schaffen, der nicht mehr von den Heimbetreibern abhängig ist und den wir mit den Geflüchteten zusammen gestalten können, wo wir eigene Ideen umsetzen können“, meint Stephan Jung.

Neben regelmäßigen Treffen finden dort Fotographie- und Graffitiworkshops, Strickkurse und ein von Geflüchteten selbst organisiertes Internetcafé statt, auch Filmabende und Feste. Für nächstes Jahr sind Deutschkurse geplant.

Unterstützung und Vernetzung in einem angespannten Umfeld

Bei der Eröffnungsfeier von „LaLoka“ überraschte die stellvertretende Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle das Team: Sie kündigte in ihrem Grußwort an, dass sie dem Verein beitreten will und unterschrieb noch am selben Tag die Beitrittserklärung.

Auch die Integrationsbeauftragte Elena Marburg und die Linken-Politikerin Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, kamen zur Eröffnungsfeier. Stephan Jung und Luisa Seydel schätzen die Unterstützung des Bezirks. Umso mehr, als sich die Lage in Hellersdorf seit Jahresbeginn nochmal deutlich verschärft hat: „Wir machen uns natürlich große Sorgen über die Entwicklung, zu Jahresbeginn hat sich die Lage hier nochmal unheimlich radikalisiert“, berichtet Luisa Seydel. „Es gab mehrfach Bölleranschläge auf die Unterkunft, es gab Hetzjagden auf Geflüchtete, wenn sie auf dem Weg nach Hause waren. Um Pfingsten rum gab es eine spontan angemeldete Demonstration, wo den Leuten in der Unterkunft, die am Fenster standen, zugerufen wurde: ‚Spring doch, Du Parasit, spring doch!’ Also es hat sich dieses Jahr nochmal unheimlich verschärft und wir haben uns auch große Sorgen gemacht, die Begegnungsstätte zu eröffnen.“

Im Oktober versuchten 15 Personen aus der rechten Szene in das Ladenlokal einzudringen, sie beleidigten die anwesenden Geflüchteten mit rassistischen Sprüchen. Die Lage konnte erst entschärft werden, nachdem „Hellersdorf hilft“ die Polizei gerufen hatte. Der Verein hat Anzeige wegen Hausfriedensbruchs gestellt. „Es ist beschämend, dass das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, die sich für geflüchtete Menschen einsetzen, nur unter massiven Sicherheitsvorkehrungen möglich ist“, so Stephan Jung. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen aufgenommen.

Bedrohungen und Einschüchterungen erleben nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Aktiven bei „Hellersdorf hilft“. Auf das Büro wurde ein Bölleranschlag verübt, Luisa Seydels Foto mit Morddrohungen in sozialen Netzwerken gepostet. Eine Mitarbeiterin der Kirche vermutet, dass ihr Auto angezündet wurde, weil man sie beim Liefern einer Spende samt Auto-Kennzeichen fotografiert hat. Dennoch wollen sich die Aktiven nicht einschüchtern lassen. Sie hoffen, mit „LaLoka“ einen Ort zu haben, wo sie Projekte umsetzen können. Denn im letzten Jahr haben sie Kontakt zu rund 400 Menschen gehabt, die sich gern für eine Willkommenskultur in Hellersdorf einsetzen wollen.

Ein breites Bündnis stoppt einen Neonaziaufmarsch

Die Flüchtlingszahlen werden auch in Deutschland weiter steigen. Bewaffnete Konflikte und Kriege weltweit führen dazu, dass immer mehr Menschen auf der Flucht sind. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat deren Zahl die 50 Millionen überschritten. Nur ein Bruchteil dieser Menschen kommt überhaupt nach Europa und nach Deutschland. Die meisten sind Binnenvertriebene oder finden Schutz in Nachbarländern, rund 85 Prozent der Geflüchteten weltweit bleiben in der Herkunftsregion. Allein die Türkei etwa hat mehr als eine Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen – Deutschland im Rahmen seines Aufnahmeprogramms rund 30.000.

Die aktuelle Diskussion über neue Container-Unterkünfte für Geflüchtete in Berlin nutzen rechte Kreise dafür, Demonstrationen „gegen Asylmissbrauch“ zu initiieren. In Marzahn-Hellersdorf haben schon mehrere davon stattgefunden. Im November konnten 2500 bis 3000 Gegendemonstrant_innen einen Neonazisaufmarsch verhindern, dem sich auch Anwohner_innen angeschlossen hatten. Die rund 800 Personen sahen sich einem breiten Bündnis aus Vereinen, Initiativen, Parteien und Anwohner_innen gegenüber und konnten ihren Demonstrationszug letztlich nicht durchführen.

„Es ist wichtig zu benennen, wer sich hinter der Organisation der Proteste verbirgt und die Menschen über das Thema Asyl aufzuklären“, meint Stephan Jung. „Die Kritik an der Art der Unterbringung ist völlig legitim und wird auch von uns geteilt. Aber wir appellieren an die Empathie der Menschen, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und sich für geflüchtete Menschen und ihre Rechte einzusetzen.“

Ein exemplarischer Konflikt

„Hellersdorf hilft“ wurde unter anderem mit dem Preis „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet. Auf ihrer Website weisen die Aktiven darauf hin, dass sie den Preis stellvertretend entgegengenommen haben. „Wir haben sehr im Fokus der Öffentlichkeit gestanden letztes Jahr, weil hier nun mal ein viel größerer Konflikt exemplarisch in Hellersdorf ausgetragen wird“, meint Stephan Jung. „Deswegen stehen wir mehr in der Öffentlichkeit als andere Initiativen in ganz Deutschland, die ähnliche Arbeit machen. Und für die ist es genauso wichtig, dass deren Arbeit honoriert wird. Und deswegen wollten wir ein wenig darauf aufmerksam machen.“

Das Netzwerk um „Hellersdorf hilft“ hat im letzten Jahr mit dazu beigetragen, dass sich die Lage in Hellersdorf nach der Eröffnung des Flüchtlingsheims in einer ehemaligen Schule unter vielen Anwohner_innen deutlich beruhigt hat. Ob Workshops mit Jugendlichen zu „Willkommenskultur, Flucht und Asyl“ oder gemeinsame Feste und Veranstaltungen in der Begegnungsstätte LaLoka – all diese Aktivitäten eröffnen Begegnungsmöglichkeiten und helfen Vorurteile abzubauen.

Rechte Mobilisierungsstrategien beim Thema „Flucht und Asyl“

Die Amadeu Antonio Stiftung beobachtet seit ihrer Gründung die Aktivitäten der rechten Szene, auch beim Thema „Flucht und Asyl“. Geschäftsführer Timo Reinfrank hat die Entwicklungen rund um die neu eröffnete Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Hellersdorf verfolgt. Er erkennt dabei eine klassische rechte Mobilisierungsstrategie – über die die Stiftung gemeinsam mit Pro Asyl in einer Broschüre aufklärt. Sogenannte Bürgerinitiativen, die gegen Flüchtlingsheime protestieren, sind personell mit der rechten Szene verflochten. Sie können mit rassistischen Parolen relativ viele Menschen gewinnen und heizen die Stimmung vor Ort auf: „Da ist ein unglaublich großes rassistisches Mobilisierungspotenzial, das uns große Sorgen macht. Dabei kommen besonders auch soziale Medien zum Einsatz“, meint Timo Reinfrank. „In Facebook-Gruppen wurde dazu aufgerufen, das Heim zu verhindern. Es gab Drohungen, Geflüchtete wurden abfotografiert und die Bilder mit rassistischen Sprüchen ins Netz gestellt. Diese Art von Alltagsterror ist eine neue Qualität.“

Vor allem seit der letzten Bundestagswahl machen rechte und rechtsextreme Gruppierungen gezielt Stimmung gegen Asylsuchende. Laut Verfassungsschutzbericht 2013 haben sich die Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte mit 58 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Das Bundesinnenministerium teilte vor kurzem mit, dass in 2014 bislang schon 86 Angriffe auf Asylbewerberheime verzeichnet wurden und dass diese Entwicklung mit Sorge verfolgt werde.

Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl haben 2014 schon zahlreiche flüchtlingsfeindliche Aktionen und Angriffe gezählt (Stand 12.12.2014): 194 Demonstrationen und Kundgebungen vor Heimen. 50 Anschläge auf Flüchtlingsheime, davon knapp die Hälfte Brandanschläge. 29 tätliche Angriffe gegen Geflüchtete.

(Keine) Willkommenskultur im Alltag

Eines der größten Probleme ist für Timo Reinfrank die Situation der Geflüchteten im Alltag, sie mache ihm die größten Sorgen: „Also dass Flüchtlingskinder, die zur Schule gehen, angepöbelt und angespuckt werden. Dass die Lehrerinnen und Lehrer sich nicht angemessen auf die Situation einstellen und sie quasi in der Ecke stehen lassen. Das sind ganz andere Dimensionen und da muss man eigentlich nochmal viel mehr ran, weil das ist das, was man gar nicht sieht.“ Er ergänzt: „Und da bin ich den Willkommensinitiativen unglaublich dankbar, dass sie sich sehr um diese alltäglichen Dinge bemühen und den Geflüchteten zur Seite stehen.“

Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl haben gemeinsam eine Broschüre zum Thema „Refugees Welcome. Gemeinsam Willkommenskultur gestalten“ veröffentlicht. Darin finden sich zahlreiche Beispiele aus dem ganzen Bundesgebiet, wie man vor Ort für aktiv werden kann und wie eine Begegnung mit Geflüchteten auf Augenhöhe gelingt. Ein Aspekt, der Timo Reinfrank besonders wichtig ist. Denn auch die Proteste von Geflüchteten selbst haben über die Jahre zugenommen und das Thema „Flucht und Asyl“ stärker ins öffentliche Bewusstsein gebracht: „Die Geflüchteten treten durch deutlich öffentlich wahrnehmbare Aktionen selbst für ihre Rechte ein. Das ist nochmal eine andere Qualität, weil es eben nicht mehr um dieses Paternalistische geht. Das gefällt auch nicht jedem, aber ich finde das unglaublich gut.“

Oft trete in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund, dass es um die Grund- und Menschenrechte der Geflüchteten geht. Und um die Forderung nach einem menschenwürdigem Umgang mit ihnen. Die Proteste von Geflüchteten vor dem Brandenburger Tor, auf dem Kreuzberger Oranienplatz oder in der Gerhardt-Hauptmann-Grundschule sind in Timo Reinfranks Augen ein Ausdruck der Verzweiflung: „Denn die Leute sind durch dieses Asylsystem mittlerweile an einem Punkt, wo sie nicht mehr weiter wissen.“

Was sich im Vergleich zu 1993 geändert hat

Als 1993 mit dem „Asylkompromiss“ das Recht auf Asyl in Deutschland stark eingeschränkt wurde, ging dies mit einer massiven Stimmungsmache gegen Geflüchtete einher. Es kam zu Brandanschlägen wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda.

Wenn Timo Reinfrank die Situation heute mit der von vor zwanzig Jahren vergleicht, sieht er einige Unterschiede: „Es gibt einerseits ganz viel zivilgesellschaftliches Engagement, was es so damals nicht gab. Ich würde aber auch sagen, es gibt eben über die Jahre hinweg eine sehr viel sachlichere Debatte darum. Die Medien haben sehr viel dazu beigetragen Anfang der 90er Jahre, dass es diese Welle des Rassismus gab. Und dass es überhaupt keine Möglichkeit gab, Empathie aufzubauen. Und das, finde ich, ist jetzt sehr viel differenzierter.“

Mit Blick auf die lokalen Willkommensinitiativen wie „Hellersdorf hilft“ ergänzt er: „Es gibt auch sehr viel mehr verantwortliche Kommunalpolitiker und zivilgesellschaftliche Akteure, die da sofort geschaltet haben, sich erinnert haben, was in den 90er Jahren war und gesagt haben: das müssen wir auf jeden Fall verhindern, dass es wieder dazu kommt.“ Allerdings liege viel Engagement bei Einzelpersonen, die auszubrennen drohten. In Politik und Verwaltung fehle es noch an Konzepten, die eine Willkommenskultur strukturell verankern – was eben auch bedeuten müsste, Ehrenamtliche durch hauptamtliche Strukturen zu unterstützen. „Es sollte nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob es Engagierte vor Ort gibt, die eine Willkommensinitiative starten“, so Timo Reinfrank. „Es sollte einfach zum Selbstverständnis von Gemeinden und Städten gehören, Flüchtlinge aufzunehmen und sie eben auch als Bereicherung und Chance zu sehen – als eine Möglichkeit für Vielfalt und den Blick über den Tellerrand hinaus.“

 

Foto: Elisabeth Gregull

Dezember 2014

 

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