Nachwuchs für die Berliner Politik

Sie sind jung und haben viele Sitzungen. Wenn sie einen Antrag an die Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg stellen, dann bekommen sie immer eine Antwort. Denn sie repräsentieren die Kinder und Jugendlichen im Bezirk. Ein Besuch beim ehrenamtlichen Vorstand des Kinder- und Jugendparlamentes Tempelhof-Schöneberg.

Von Elisabeth Gregull

Der Vorstand des Kinder- und Jugendparlamentes Tempelhof-SchönebergMittwoch Nachmittag, 17 Uhr, ein kleiner Raum in der vierten Etage im Rathaus Friedenau. Die Wände sind gelb gestrichen, ein paar Flaschen Apfelschorle stehen in einem einfachen Holzregal und auf dem Tisch. Um ihn herum auf grün gepolsterten, schon etwas älteren Stühlen sitzen rund 12 Kinder und Jugendliche. Es ist der ehrenamtliche Vorstand des Kinder- und Jugendparlamentes Tempelhof-Schöneberg (KJP), der sich hier alle drei Wochen trifft.

Vorstandsvorsitzender mit Basecap

Uzair Hussain ist Vorsitzender des Vorstandes, er moderiert die Sitzung und führt die Redeliste. Der 18-Jährige mit der schwarzen Brille und dem Basecap ist redegewandt und macht immer wieder Witze. Dennoch ist die Atmosphäre durchaus ernst und konzentriert. Auf der Tagesordnung steht die Frage: Wie können mehr Jugendliche für Projekte gewonnen werden? Nach einigen Diskussionsbeiträgen fasst Uzair Hussain zusammen und schließt mit einem Appell an alle: „Also, zur nächsten Sitzung habt ihr eine Hausaufgabe: Macht euch Gedanken, wie wir mehr Jugendliche beteiligen können.“

Oliver Schmidt, Mitarbeiter des Jugendamtes, unterstützt den Vorschlag von Uzair Hussain: „Stellt euch vor, ihr seid die Verantwortlichen und müsst dafür sorgen, dass noch mehr Kinder und Jugendliche in das KJP kommen. Was würdet ihr tun?“ Oliver Schmidt und Maike Hoffmann begleiten die Arbeit des KJP und kümmern sich um die Geschäftsstelle. Sie sind im Jugendamt unter anderem für Kinder- und Jugendbeteiligung zuständig. 2006 schuf die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) mit dem Parlament eine Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, sich an der demokratischen Willensbildung und kommunalpolitischen Entscheidungen zu beteiligen.

Ein ordentliches Parlament – für Kinder und Jugendliche

Zu Beginn des neuen Schuljahres geht es heute auch um die anstehenden Neuwahlen. Jedes Schuljahr können die Vollversammlungen der Grund-, Ober- und Berufsschulen und die Kinder- und Jugendfreizeitheime ihre Abgesandten in das Parlament wählen. Kandidieren können junge Menschen ab der vierten Klasse bis zu ihrem 21. Lebensjahr, die eine Schule oder Einrichtung im Bezirk besuchen.

Sechs Seiten umfasst die Geschäftsordnung des Parlaments. Bis ins Detail ist geregelt, was die Pflichten der Abgeordneten sind, wie die Arbeit des Parlamentes und des Vorstandes abläuft. Kinder und Jugendliche aus dem Bezirk können ihre Wünsche an das Parlament geben. Drei Regionalgruppen recherchieren und bereiten die Anträge vor, die dann in den vier großen Plenarsitzungen diskutiert werden.

„Die BVV ist uns immer eine Antwort schuldig“

Während die jüngeren Vorstandsmitglieder in der Pause mit einer Journalistin darüber sprechen, was sie als Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler machen würden, blicken einige ältere Vorstandsmitglieder auf das vergangene Jahr zurück. Bei den rund 60 Anträgen dominierten Verbesserungen für Spielplätze, Sportanlagen, Freizeiteinrichtungen – und sanierungsbedürftige Schultoiletten. Auch wenn dieses Thema immer wieder auftaucht, schaut sich die BVV jeden Antrag neu an, meint Melek Müller: „Die sagen jetzt nicht zu einem Antrag, oh nein, nicht schon wieder. Die geben dazu eigentlich keinen Kommentar ab. Sondern nur, ob es Sinn macht und umgesetzt werden kann oder nicht.“ Und das ist keine Frage des Wollens, die BVV muss auf die Anträge des KJP reagieren.

„Die BVV ist uns ja immer eine Antwort schuldig und darauf sind wir auch stolz“, sagt Uzair Hussain. „Auch wenn die den Antrag ablehnen, wegen Geldern, dann müssen sie uns das wirklich schreiben.“ Jovanka Pejovic nimmt ein solches Antwortschreiben in die Hand und liest vor: “Hier steht zum Beispiel, dass die Toiletten in der Maria-Montessori-Grundschule 2000 saniert wurden und das dann nicht erforderlich ist. Also nicht alles wird angenommen.“ Über die Jahre hat das KJP rund 300 Anträge an die BVV gestellt, erzählt Oliver Schmidt: „10 Prozent der Anträge wurden umgesetzt, bei weiteren 10 Prozent konnte ein Kompromiss gefunden werden. Bei rund 20 Prozent war ein Handeln nicht mehr notwendig, da bereits im Vorfeld eine Lösung gefunden wurde.“

Jenseits von Sitzungen und Parlamentsarbeit

Für seine Arbeit kann der Vorstand die anliegenden Büroräume nutzen. Neben Antragslisten und Sitzungen standen im vergangenen Jahr ein paar Highlights auf dem Programm. Der Vorstand war beim zweiten Kongress der Kinderrechte des Deutschen Kinderhilfswerks in Stuttgart.

Und das KJP hatte Besuch aus Paris, von einem Kinderbeteiligungs-Zentrum, einem „Conseil des enfants“. Cédric Kekes, der von sich sagt, er sei zu einem Viertel Franzose, gefällt das französische Modell der Kinder- und Jugendbeteiligung: „Es gibt ein Gesetz und dann haben alle Kommunen einen solchen Conseil eingeführt. Das war auch eine interessante Erfahrung, dass es in Frankreich etwas fortschrittlicher ist, was diese Dinge angeht.“ In Berlin gibt es zur Zeit nur zwei Kinder- und Jugendparlamente, das zweite in Charlottenburg Wilmersdorf. Der Vorstand reist bald zum Gegenbesuch nach Paris. Es gibt Kontakte zu anderen Kinder- und Jugendprojekten in Deutschland, auch Besuch aus Graz, Russland und Marokko war schon da.

„Schule für Politikernachwuchs“

Fünf Mitglieder des Kinder- und Jugendparlamentes Tempelhof-SchönebergMelek Müller, Jovanka Pejovic, Cédric Kekes, Daniel Michailidis und Uzair Hussain sind zwischen 15 und 18 Jahren alt. Einige sind schon seit vielen Jahren dabei. Die parlamentarische Arbeit hinterlässt offenbar Spuren – auf Fragen antworten die jungen Vorstandsmitglieder mit einem Tonfall und einer Wortwahl, die man genauso in der professionellen Politik finden könnte. „Meine Eltern sagen auch, dass ich manchmal schon wie ein Politiker rede“, grinst Cédric Kekes. Uzair Hussain lacht: „Wenn man privat unterwegs ist, sobald einer ein Handy rausholt und ein Foto machen will, kommt bei mir einfach dieses Politikerlächeln. Und das regt meinen Freundeskreis schon auf. Lach mal wie ein Mensch, sagen die dann.“

Sein Freundeskreis aber akzeptiert, dass er sich seit Jahren kinder- und jugendpolitisch engagiert, erzählt der Vorstandsvorsitzende. Jovanka Pejovic schüttelt den Kopf: „Bei mir gar nicht. Also meine Schule, die kennen das eigentlich gar nicht. Es wird auch nicht anerkannt, was man macht.“

„Verbindungen in die große Politik“

Anders scheint es bei den erwachsenen Politikerinnen und Politikern zu sein. „Wir wurden auf das Neujahrstreffen der SPD eingeladen“, berichtet Daniel Michailidis. „Da haben wir als Vorstand das KJP vertreten. Alle kamen ins Gespräch mit den Abgeordneten. Ich war auch schon auf anderen Veranstaltungen, habe mit Stadträten gesprochen. Und die erkennen uns wieder.“

Uzair Hussain hat sich schon öfter von Orkan Özdemir beraten lassen, dem Vorsitzenden der AG Migration und Vielfalt der SPD Tempelhof-Schöneberg. Er gibt Tipps, wie man strategisch am besten vorgeht. Uzair Hussain wendet sich an die anderen Vorstandsmitglieder: „Wann erreicht man erwachsene Politiker am besten? Natürlich in der Wahlzeit. Da wollen die natürlich auch gern Fotos mit uns machen, alle lächeln. Das müssen wir demnächst auch ein bisschen ausnutzen“, sagt er mit Blick auf die Bundestagswahl.

Cédric Kekes bestätigt: „Jeder hat Kontakt zu irgendeinem Politiker. Viele haben Verbindungen in die große Politik. Das erleichtert natürlich die Parlamentsarbeit. Das ist schon so, dass der Vorstand eine Schule für Politikernachwuchs ist.“ Und Jovanka Pejovic ergänzt: „Man fühlt sich auch langsam so. Auch außerhalb des Parlamentes hat man viele Sitzungen.“

Parlament mit Zuwanderungsgeschichte

Die Namen der Vorstandsmitglieder spiegeln die interkulturelle Zusammensetzung: Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungen, ein großer Teil mit Zuwanderungsgeschichte. Damit ist das Gremium repräsentativer als viele andere in Berlin. „Das habe ich schon mal mit Orkan Özdemir besprochen“, meint Uzair Hussain. „Wir sind ja ein repräsentatives Kinder- und Jugendparlament. Das heißt, dass wir unseren Bezirk repräsentieren müssen. Im Vorstand haben wir relativ viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, im Parlament auch. Aber für mich reicht das noch nicht. Unser Bezirk hat viele Leute mit Migrationshintergrund. Und bei den einzelnen Regionalgruppen ist das auch unterschiedlich. Mein Ziel ist, dass irgendwann jede Regionalgruppe wirklich so viele Leute mit Migrationsgeschichte hat wie die Regionalgruppe in echt.“ Er räumt selbstkritisch ein, dass die Aktiven im Parlament ohnehin schon engagiert sind. Oft sind sie in der Schülervertretung und haben gute Noten: „Aber man braucht auch andere.“

Cédric Kekes findet, dass die interkulturelle Zusammensetzung des Parlaments eine Besonderheit ist: „Das macht unser Parlament auch so ein bisschen aus, dass wir bei verschiedenen Jugendgruppen auch in verschiedenen Sprachen reden können. Wenn Leute aus Frankreich kommen, können wir auf Französisch antworten. Wenn jemand aus Marokko kommt, können wir Arabisch sprechen. Das ist tatsächlich auch so ein bisschen der Charakter dieses Parlaments. Menschen mit verschiedenen Migrationshintergründen – uns verbindet, dass wir alle in diesem Bezirk wohnen.“

Wer fehlt

An anderer Stelle ist das Parlament weniger repräsentativ: Zwar werden auf der Website und auch in den Briefen an die Schulen ausdrücklich „junge Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen ermutigt, sich zur Wahl zu stellen“. Aber im Parlament sind sie momentan nicht vertreten. Zu dem Aufruf kam es seinerzeit durch ein weiteres Vorstandsmitglied, erzählt Uzair Hussain: „Vor vier oder fünf Jahren hat sich ein Freund von mir in den Vorstand wählen lassen. Sein Bruder ist im Rollstuhl, also wollte er sich für Menschen mit Gehbehinderung einsetzen. Ich glaube, wenn man Personen hat, die das direkt betrifft, dann kann man das Thema wirklich besser hochpushen.“ Aber bislang blieb der Aufruf ohne Erfolg.

Nächstes Ziel: Stimmrecht

Uzair Hussain und Daniel MichailidisVor der zweiten Hälfte der Vorstandssitzung bleibt noch Zeit für einen Blick auf die größten Erfolge. Cédric Kekes zögert nicht lange: „Aus unserem Parlament kam der Vorstoß, das Hitzefrei wieder einzuführen, das im Land Berlin abgeschafft wurde. Der Antrag ging in den Schulausschuss, der hat ihn an die BVV gegeben und die hat ihn angenommen. Manche Schulen machen es, andere nicht. An vielen Grundschulen wird es wieder eingeführt.“

Für Uzair Hussain gibt es noch einen anderen Meilenstein: „Wir sind beratendes Mitglied des Jugendhilfeausschusses. Das will schon was heißen. Noch ohne Stimmrecht, das ist das nächste Ziel.“ Und Daniel Michailidis meint: „Wir sind stolz, dass wir Ideen durchzusetzen können und geschätzt werden. Dass wir als Jugendliche unsere Meinung sagen können.“ Und das können sie schon sehr gut. Man darf gespannt sein, wen diese frühen Erfahrungen in Rhetorik, Sitzungen und Verhandlungen später mal in die „große Politik“ führen. Jetzt geht es erst mal mit der Vorstandssitzung weiter.

 

Foto: Elisabeth Gregull

September 2013

 

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