„Unsere Probleme lassen sich nur politisch lösen“

Geflüchtete Frauen und Kinder leiden anders unter dem deutschen Asylsystem als geflüchtete Männer. Seit 2002 setzt sich die Potsdamer Initiative „Women in Exile“ für ihre Rechte und Interessen ein. Elisabeth Ngari, eine der Gründerinnen, im Gespräch. 

Die Fragen stellte André Vollrath.

Elisabeth Ngari von Women in Exile

„Der Begriff ‚Willkommenskultur’ hat für mich etwas Ironisches“, sagt Elisabeth Ngari. Gemeinsam mit anderen geflüchteten Frauen* gründete sie 2002 in Brandenburg die Initiative „Women in Exile“. Die Initiative setzt sich für die Interessen und Rechte geflüchteter Frauen und Kinder ein. Erst vor kurzem erhielt sie dafür den taz Panter Preis, mit dem die Tageszeitung taz Projekte und Menschen ehrt, die gesellschaftliche Missstände aufdecken. Das Gespräch mit Elisabeth Ngari über ihre Erfahrungen als Geflüchtete in Deutschland und die Arbeit von „Women in Exile“ ist der erste Teil einer kleinen Reihe über Engagement von und für Geflüchtete.

 

Frau Ngari, sie sind 1996 aus Kenia nach Deutschland gekommen und haben mehrere Jahre in unterschiedlichen Flüchtlingsheimen in Brandenburg leben müssen. Wie haben Sie den Alltag in den Flüchtlingsheimen damals erlebt?

Als ich nach Deutschland kam, dachte ich nicht, dass die Situation so schlimm wäre – auch wenn mir klar war, dass es nicht leicht für mich werden würde. Ich habe in zwei Heimen gelebt, beide unterschieden sich kaum. Das Heim in Prenzlau zum Beispiel war immer sehr laut, die Küche war überfüllt, man musste warten, bis andere fertig gekocht hatten, bevor man selber drankam. Dasselbe mit den Toiletten, es gab viele Toiletten, aber nur eine Tür, also konnte immer nur eine Person rein.

Auch der Einkauf war nicht selbstbestimmt. Anstelle von Geld bekamen wir so genannte „Gutscheine“. Mit diesen konnten wir nur in bestimmten Läden einkaufen. Und es gab kein Wechselgeld, das heißt, ein Gutschein für zwanzig Euro musste immer ganz eingelöst werden, wollten wir kein Geld verlieren. Wir konnten also nicht nach Bedarf und auch nicht spontan mit demselben Gutschein in zwei Läden einkaufen.

Dann gab es nichts zu tun, wir waren Tag und Nacht dort, wir durften nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen und uns nicht frei bewegen. Wir waren sehr abhängig. Und dann wurde mir klar: das ist nicht das Leben, das ich leben möchte.

Wie begann Ihr politisches Engagement und wie kam es zur Gründung von „Women in Exile“?

Es gab damals auch sehr viele Probleme mit Rechtsradikalen. Und es gab in der Uckermark Leute, die sich gegen die Rechtsradikalen organisierten. Sie kamen zu den Heimen, um uns zu helfen und mit uns über die politische Situation zu sprechen. Und dann haben wir irgendwann beschlossen, uns selber zu organisieren und uns mit Menschen aus anderen Flüchtlingsheimen in Brandenburg zu verbünden. Daraus entstand im Jahre 2000 die Brandenburger Flüchtlingsinitiative. Wir waren mehr als zwanzig Leute, haben Menschen in den Heimen mobilisiert und gemeinsam Forderungen entwickelt, die wir an die Politik richteten.

2000 gab es auch eine große Demonstration gegen die Residenzpflicht, ein Gesetz, das die Bewegungsfreiheit von Geflüchteten in Deutschland einschränkt. Davon ausgehend haben wir viele Interviews mit Geflüchteten geführt. Als Frauen stellten wir dann fest, dass geflüchtete Frauen und Kinder noch einmal anders unter dem deutschen Asylsystem leiden als Männer. Wir beschlossen, diskriminierende Gesetze aus der Perspektive von Frauen zu bekämpfen. Und das führte 2002 zur Gründung von „Women in Exile“.

Welche Erfahrungen machten geflüchtete Frauen im Unterschied zu Männern?

Es war einfacher für die Männer, die Flüchtlingsheime zu verlassen. Sie konnten in die näher gelegenen Städte gehen und sich dort bewegen. Im Heim selber gab es immer wieder sexuelle Belästigungen und die Probleme mit der Einrichtung, von denen ich gesprochen habe: offene Toiletten oder überfüllte Küchen. Man will kochen, aber die Küche ist von Männern besetzt oder Männer kommen und wollen vor einem kochen. Ein anderes Beispiel: Eine Frau kommt neu ins Heim und freundet sich mit einem männlichen Bewohner an, der ihr das Heim zeigt und sie herumführt. Es entsteht eine Beziehung. Die Beziehung verschlechtert sich und es gibt Auseinandersetzungen. Als Heimbewohnerinnen haben wir oft beobachtet, dass viele Frauen, die wegen solcher Konflikte gehen wollten, nicht nur nicht wussten wohin, sie hatten auch häufig Angst, die Konflikte anzusprechen. Das System machte uns so abhängig, dass wir immer sehr stark auf die Menschen angewiesen waren, die mit uns im Heim lebten.

Eine zentrale Forderung von „Women in Exile“ ist die Abschaffung von Sammelunterkünften für geflüchtete Frauen und Kinder. Wie ist die Situation geflüchteter Frauen in den Flüchtlingsheimen heute und wie begründen Sie diese Forderung?

Wir bekommen viele Berichte von geflüchteten Frauen: Die Situation in den Flüchtlingsheimen hat sich nicht wirklich verbessert, es gibt immer noch dieses Fehlen der Privatsphäre, die sexuelle Belästigung. Da wurde uns klar, dass es die Isolation der Frauen ist, die diese schwierige Situation erst schafft. Wären die Frauen nicht in den Heimen – wir nennen sie „Lager“ – würden ihnen viele der beschriebenen Dinge nicht passieren. Deshalb haben wir 2011 zusammen mit anderen Feminist_innen im Rahmen des Netzwerkes „Woman in Exile & Friends“ die politische Kampagne „Keine Lager für Frauen und Kinder! Alle Lager abschaffen!“ ins Leben gerufen.

Was macht „Women in Exile“ neben dieser Kampagne?

Wir besuchen Flüchtlingsheime, geben Frauen Unterstützung aus der Sicht von Betroffenen und sammeln Informationen zur Situation in den Heimen. Wir planen gemeinsame Aktionen mit anderen antirassistischen und feministischen Gruppen, demonstrieren, geben Interviews und informieren die Öffentlichkeit über die Situation geflüchteter Frauen. Und wir organisieren so genannte Empowerment-Seminare für geflüchtete Frauen. Dort haben sie die Möglichkeit, neue Perspektiven auf ihre Situation zu entwickeln und sich mit der Rechtslage auseinanderzusetzen. Weil sie so isoliert sind, kennen viele geflüchtete Frauen die Gesetze und damit auch ihre Rechte häufig nicht. Wir bieten ihnen Informationen und ermutigen sie, diskriminierende Gesetze nicht einfach hinzunehmen.

Sie sprachen davon, dass sich die Situation in den Heimen nicht wirklich verbessert habe. Wie erfolgreich war das politische Engagement Geflüchteter in Brandenburg bisher?

Der Kampf gegen die Residenzpflicht, aber auch gegen das Gutscheinsystem sind Beispiele dafür, dass sich die politische Auseinandersetzung lohnt. Die Residenzpflicht war sehr strikt und jetzt können die Leute wenigstens mit einem Stempel von einem Landkreis in den nächsten fahren oder ohne viele Probleme nach Berlin kommen. Dasselbe mit den Gutscheinen: Früher hatte jedes Heim Gutscheine, jetzt sind es nur noch zwei Landkreise. Das hat viel mit der politischen Selbstorganisation von Geflüchteten gegen diese Gesetze zu tun. Deshalb erzählen wir den Leuten immer: Es ist gut, sich zu organisieren, gemeinsam ist der Kampf stärker, man erreicht mehr.

Wer engagiert sich bei „Women in Exile“?

Im Schnitt sind es so zwischen acht und fünfzehn geflüchtete Frauen. Einige fühlen sich durch die Seminare gestärkt, werden aktiv und bleiben eine längere Zeit. Bei anderen scheitert das politische Engagement an den Strukturen, in denen sie sich befinden: Sie haben Kinder, Familie, lassen viel Kraft in den Heimen oder warten auf ihre Abschiebung. Sie versuchen eher, ihre Probleme alleine zu lösen und einen guten Rechtsanwalt zu finden. Auch dabei helfen wir.

Dann gibt es viele deutsche Frauen, die sich engagieren, meistens sind sie bereits Aktivist_innen aus dem feministischen Feld. Sie helfen uns mit ihrer Erfahrung und Sprachkompetenz. Wir treffen uns einmal im Monat, um politische Strategien zu entwickeln und um zu überlegen, wie es mit der Kampagne „Keine Lager für Frauen und Kinder! Alle Lager abschaffen!“ weitergehen könnte.

Seit rund zwei Jahren dringen die Proteste von Geflüchteten noch stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Besonders sichtbar waren zum Beispiel der Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor und die Besetzung des Kreuzberger Oranienplatzes und der Gerhard-Hauptmann-Schule. Wie empfinden Sie die Debatten, die darum in den Medien geführt werden?

Ich denke, es steht zu oft die Sensation im Vordergrund. Die eigentlichen, politischen Forderungen der Geflüchteten gehen häufig verloren. Im Kern geht es nicht um mehr oder bessere Schlafplätze oder darum, dass jemand unbedingt in einer Schule bleiben will – so wird ja häufig berichtet. Die Menschen wollen arbeiten, um ihre eigene Wohnung zu bezahlen, sie wollen sich weiterbilden, sich frei bewegen können und Teil der Gesellschaft sein. Sie wollen ihr eigenes Leben leben und nicht das Leben, das die deutsche Asylpolitik für sie vorgesehen hat. Die Vorstellung, dass man Geflüchtete von einer Sammelunterkunft in die nächste bringt, sie aber immer noch wie Gefangene hält, wird kein Problem lösen. Die Medien sind hier in der Verantwortung. Sie sollten die Öffentlichkeit besser informieren und die politischen Inhalte und Forderungen von Geflüchteten sichtbar machen.

Wie empfinden sie in diesem Zusammenhang einen Begriff wie „Willkommenskultur“, der ja auch sehr präsent in den Medien ist?

Der Begriff „Willkommenskultur“ hat für mich etwas Ironisches. Vor allem unter Geflüchteten kenne ich niemanden, der sich willkommen fühlt. Jemanden willkommen zu heißen bedeutet nicht nur, ein Bett und Essen zur Verfügung zu stellen. Es bedeutet, Menschen die Möglichkeit zu geben, auf eigenen Füßen zu stehen, teilzuhaben an der Gesellschaft, die Sprache zu lernen, arbeiten zu können. Das wäre ein wirkliches Willkommen. Das ist mehr als ein Dach über dem Kopf und Essen.

Was sind Ihre nächsten Ziele als „Women in Exile“?

Wir möchten wachsen. Im Moment ist unser Verein noch sehr neu, also gehen wir die Dinge langsam an. Aber am Ende wollen wir eine Stimme für die geflüchteten Frauen sein und weiter mit unterschiedlichen Gruppen netzwerken: mit Gruppen geflüchteter Frauen oder Gruppen, die sie unterstützen. Auch möchten wir noch mehr geflüchtete Frauen inspirieren und ermutigen, sich selbst zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Es ist immer gut, zu schauen, wie man zusammenzuarbeiten kann, um die politischen Themen öffentlich sichtbar zu machen. Denn viele Probleme, die geflüchtete Frauen haben, lassen sich nur politisch lösen.

 

* Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen. Die Bezeichnungen “geflüchtete Frauen” und “die Geflüchteten” sind unsere Übersetzungen der Begriffe “refugee women” und “refugees”.

 

Foto: Elisabeth Gregull

November 2014

 

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