Alte Gewohnheit, neue Aufgabe

Hartmuth Keller war schon lange ehrenamtlich aktiv, bevor er als Lesepate an die Neuköllner Regenbogen-Grundschule kam. Deren rollstuhlgerechte Bauweise und seine Offenheit für Neues machten es möglich.

Von Elisabeth Gregull

Hartmuth KellerHartmuth Keller ist kein Mensch, der übereilte Entscheidungen trifft. Er wird auch nicht überschwänglich, wenn er von seinem ehrenamtlichen Engagement spricht. Es ist ihm eher unangenehm, wenn er deswegen plötzlich im Mittelpunkt steht. Denn es gehört seit über einem Jahrzehnt einfach zu seinem Leben.

Der Diplomkaufmann lebt in Marienfelde. Krankheitsbedingt ist er seit fast 25 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Er war dabei, als 2001 der Beirat von und für Menschen mit Behinderungen des Bezirks Tempelhof-Schöneberg gegründet wurde: „Damals war ich noch wesentlich engagierter und motivierter, die Barrierefreiheit in der Stadt voranzutreiben“, erzählt er mit einem Anflug von Ermüdung. „Weil ich aus eigener Erfahrung gesehen habe, dass vieles nicht passte. Angefangen von nicht abgesenkten Bordsteinkanten bis hin zu fehlenden Griffen in öffentlichen Toiletten oder eben all das, was Rollstuhlfahrer betrifft. So vieles ist mir aufgefallen in der Stadt, dass ich mir gesagt habe: ich muss mich engagieren. Bei einer Veranstaltung des Bezirkes kam die Idee des Beirates auf und ich habe mich gleich gemeldet.“

Eine Schule auf der Suche nach Ehrenamtlichen mit Rollstuhl

Die rollstuhlgerechte Bauweise war eine der Voraussetzungen dafür, dass Keller als Lesepate an die Regenbogen-Grundschule in Neukölln kam. Eine ganz neue Aufgabe für ihn. Das war 2011. „Frau Reuschel, die Ehrenamtskoordinatorin der Fürst Donnersmarck-Stiftung, hatte Kontakt zu mir aufgenommen. Bei ihr hatte sich eine Dame gemeldet, die für die Schule einen Lesepaten im Rollstuhl suchte. Denn sie hatten gute Erfahrungen mit einem Rollstuhlfahrer gemacht. Also nahm sie Kontakt zur Stiftung auf, weil die Fürst Donnersmarck-Stiftung eben mit Menschen mit Behinderungen arbeitet.“ Er sprach noch weitere Bekannte an, und dann gab es einen Informationsabend in der Stiftung mit Frau Reuschel, der Koordinatorin von der Schule und vier potenziellen Interessierten.

Hartmuth Keller spricht zögerlich darüber, wie es weiterging. Und zögerlich war damals auch seine Reaktion: „Der Vortrag dieser Dame hat mich nicht so richtig überzeugen können. Ich bin ein Mensch, der Struktur braucht. Das und das wird gefordert und das muss ich machen, dann weiß ich, worauf ich mich einzulassen habe.“ Er hält inne: „Nach dem Vortrag wusste ich nicht genau, auf was ich mich da einlassen würde. Sie hat nicht so strukturiert gesprochen. Und sie sagte mehrmals, das ist gar nicht so einfach und man muss im Umgang mit den Kindern ein besonderes Fingerspitzengefühl haben.“ Als sie nach möglichen Reaktionen der Kinder gefragt wurde, kam nur die Antwort: „Ich weiß nicht, wie die auf einen Rollstuhl reagieren.“ Auf Keller wirkte dieser Vortrag nicht sehr motivierend, eher im Gegenteil.

Der Sprung ins kalte Wasser

Er hat also nicht gleich ja gesagt. Letztlich musste Frau Reuschel nochmal bei ihm nachhaken und ihn motivieren, es doch einfach mal zu probieren. Und dann rang er sich durch – er war der einzige von den vier Interessierten.

„Ich war dann zu einem ersten Vorstellungstermin in der Schule, wo die anderen, schon jahrelang tätigen Lesepaten auch gewesen sind, das waren alles Läufer“, erzählt er rückblickend. “Ich habe überhaupt keine Ahnung gehabt, es war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich habe diverse Fragen gestellt, habe meine Unsicherheit zum Ausdruck gebracht. Die anderen meinten dann: Nein, nein, das ist gar nicht so schlimm. Aber so richtig konkret konnten sie mir auch nicht sagen, wie sie das machen. Teilweise hatten sie nur ein Kind als Lesepate, andere waren in der Gruppe, einer in der ganzen Klasse … es war also ganz unterschiedlich.“

Den richtigen Rhythmus finden

Er sollte Kindern der ersten Klasse beim Lesen lernen helfen, es ging nicht darum, dass er vorlas. So viel wenigstens stand fest. Die Klassenlehrerin war seine feste Ansprechpartnerin, mit ihr kam er gut zurecht. Sie stimmten sich vor der Stunde ab und am Ende gab Keller ihr ein Feedback zu den Fortschritten oder Schwächen der Kinder beim Lesen. Er wirkt nachdenklich, als er über diese Anfangszeit redet. Und man merkt, wie er auch jetzt nochmal Fragen und Gedanken nachvollzieht, die ihn damals beschäftigt haben: „Ich musste dann erst herausfinden, was das Beste für die Kinder ist – und was dann auch für mich nicht so stressig ist. Was effektiv ist, was dem Kind eher was bringt. Wenn ich es einzeln aus der Klasse rausziehe oder in der Gruppe übe.“

Er schmunzelt. „Ich habe schnell rausgefunden, dass ein Kind für mich nicht so stressig war, aber für das Kind war das natürlich sehr viel intensiver und damit auch stressiger. Aber so kann man die Schwachstellen besser bearbeiten.“ Und weil jedes Kind anders ist, müsse man sich eben auf jedes einzelne anders einstellen. Er hatte dann vier bis fünf Kinder in anderthalb Stunden, das war schon anstrengend für ihn, meint er.

„Wenn nicht wir, die Betroffenen, die Antworten geben können, wer dann?“

Von den Kindern haben die einen mehr, die anderen weniger Zutrauen gefunden. Aber es dauerte nicht lange, bis sie Kontakt aufbauten. Und die Reaktionen auf seinen Rollstuhl waren neugierig und interessiert: „Die wollten wissen, wieso ich da drin sitze“, erzählt Keller. „Sie haben eben all die Frage gestellt, die Kinder fragen. Und man muss ihnen gute Antworten geben, damit sie damit umgehen können. Wenn nicht wir, die Betroffenen, die Antworten geben können, wer dann?“

Er konnte mit dieser Situation recht entspannt und gelassen umgehen. „Man entwickelt ja auch eine gewisse Routine, wie man antwortet.“ Dann wollten die Kinder den Rollstuhl auch durch die Gegend schieben. Da musste er aufpassen, dass er nicht irgendwo gegenfährt, meint er lächelnd. Die natürliche Neugier der Kinder ist ihm lieber als die Reaktionen, die er sonst häufig erlebt: „Viele wollen damit nichts zu tun haben. Nach wie vor will man schnell den Blick senken, wenn ein Rollstuhlfahrer kommt, aber das kratzt mich ja nicht mehr. Ich bin seit fast 25 Jahren im Rollstuhl.“

Anderthalb Jahre als Lesepate sind für ihn eine gute Erfahrung gewesen, sagt Keller, es hat ihm Freude gemacht. Außer in der Ferienzeit war er jede Woche einmal vor Ort.

Pause mit Perspektive

Sein Interesse und Engagement hat dann im Laufe der Zeit etwas nachgelassen. „Am Anfang war ich sehr motiviert und engagiert. In der ersten Klasse, das ist ja wirklich der Anfang vom Lesen, von Schule. Also die Basics. Der Bezug zur eigenen Kindheit wird wieder wachgerüttelt: Ach, genau so war es damals auch. Das ist vielleicht ein Jahr lang ganz interessant, wie so kleine Menschen das aufnehmen … aber dann ist es immer das Gleiche.“ Und so hat er sich nach den großen Schulferien 2012 entschlossen, erstmal aufzuhören und sich vielleicht später mal wieder zu engagieren.

„Man ist ja selber auch noch da, mit seiner Behinderung, mit seiner Krankheit. Und es ist ja jetzt nicht so, dass ich das nebenbei mache wie frühstücken, sondern es ist dann ein relativer Aufwand. Und der Aufwand ist im letzten Viertel der Zeit doch beschwerlicher geworden. So dass ich dachte: Ehrenamt hin oder her, alles gut und schön, aber denk auch an dich selber.“ Die Schule habe auf seine Entscheidung mit Verständnis reagiert. Und er sei auch bereit, vielleicht mal wieder aktiv zu werden, und sei es auch nur für ein halbes Jahr: „Die Schulen sind dankbar für jeden, der den Lehrern ein bisschen Druck wegnimmt. Ich ziehe wirklich den Hut vor Grundschullehrern in der ersten-zweiten Klasse. Ich war ja schon von den anderthalb Stunden erschöpft. Es war nicht unangenehm, aber zuhause habe ich dann gemerkt, wie erschöpft ich war. Der Trubel, das Rumtoben, das wirkt schon auf den Körper.“

„Es ist eigentlich ein ideales Ehrenamt für Menschen mit Behinderungen, die sehen und reden können“

Hartmuth Keller hat schon öfter über seine Erfahrungen berichtet, unter anderem beim Jour Fixe der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Wenn man ihn fragt, wie man mehr Menschen mit Behinderungen für ehrenamtliche Tätigkeiten gewinnen kann, dann fällt ihm Verschiedenes ein. „Dass ich an der Regenbogen-Grundschule in Neukölln gelandet bin, war ja Zufall. Wegen der Anfrage, die von der Koordinatorin an der Schule über die Fürst Donnersmarck-Stiftung kam. Der gezielte Kontakt war wichtig. Mund-zu-Mund-Propaganda könnte helfen oder eben, wenn ein Ehrenamtsbüro gezielt vermittelt. Es ist eigentlich ein ideales Ehrenamt für Menschen mit Behinderungen, die sehen und reden können.“

Für den Weg zur Schule hat er den Fahrdienst genutzt, den er auch für seine privaten Fahrten in Anspruch nimmt. Man kann natürlich auch wohnortnah schauen – Keller kennt einen Rollstuhlfahrer, der in der Nähe in einer Schule Mathe-Nachhilfe gibt.

Die Regenbogen-Grundschule ist nicht 100 Prozent rollstuhlgerecht gebaut, aber zu 90 Prozent: „Es gab keine automatischen Türen, aber eine Rampe, einen Fahrstuhl und eine rollstuhlgerechte Toilette. Das war sehr angenehm.“ Ansonsten gilt natürlich das, was für ehrenamtliche Tätigkeiten immer gilt: „Es muss schon sehr viel stimmen und passen, damit man wirklich letztendlich bereit ist, das zu machen. Das ist ja bei vielen Dingen so. Und man muss sehen, ob es in den eigenen Alltag reinpasst.“ Auch wenn Hartmuth Keller als Lesepate eine Pause macht und sein Engagement im Behindertenbeirat in naher Zukunft beenden wird, bleibt ihm die ehrenamtliche Aufgabe als gerichtlich-bestellter Betreuer für zwei Menschen mit Behinderung. Eine Aufgabe, die er auch schon seit fast 15 Jahren ausübt.

 

Foto: Fürst Donnersmarck-Stiftung / Thomas Golka

Februar 2014

 

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