„Wo man also weggeht vom Einzelfall und sagt: so, das ist die Querschnittsaufgabe“

Christine Braunert-Rümenapf ist Referentin beim Berliner Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung. Wir sprachen mit ihr über freiwilliges Engagement von Menschen mit Behinderung und wie „Disability Mainstreaming“ im Freiwilligenmanagement aussehen könnte.

Die Fragen stellte Elisabeth Gregull

Viele Organisationen sehen Menschen mit Behinderung nur als Empfänger_innen von ehrenamtlichen Hilfsleistungen, nicht aber als (potenzielle) Freiwillige, die selbst aktiv sind oder werden könnten. Wie ist Ihr Blick auf dieses Thema?

Christine Braunert-RümenapfDas sollte man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Freiwilliges Engagement gehört zum einen zu den ganz relevanten Elementen von Demokratie und Gesellschaft. Es kann und darf staatliches Handeln nicht ersetzen, ist aber ein wichtiger Gegenpart. Und deswegen muss diese Möglichkeit, eine Gesellschaft aktiv mitzugestalten, auch allen offenstehen. Von daher müssen Rahmenbedingungen für Freiwilligen-Engagement so gestaltet sein, dass man allen Menschen in ihrer Pluralität, in ihren Lebensformen, in ihren Möglichkeiten die Möglichkeiten geben kann, sich freiwillig zu engagieren.

Der andere Blickwinkel hängt eng damit zusammen und das ist der der Teilhabe. Eine Grundlage für unsere Teilhabepolitik ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die demnächst ihr fünfjähriges Inkrafttreten feiern darf. Und hier heißt es in Artikel 30 „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“ Absatz 2, Satz 2: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen und nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“ Das ist für diesen Bereich unsere Grundlage. Und der Satz beinhaltet natürlich auch, dass man niemanden nur auf eine einzige Rolle festlegen darf. Wir sind alle mal Nehmende, mal Gebende, mal Aktive, mal Passive, mal Beratende, mal Ratsuchende.

Der dritte Blickwinkel ist das Individuelle. Sich für irgendetwas freiwillig zu engagieren – sei es in der Nachbarschaft, im Naturschutz – das ist etwas, was Spaß macht und Freude, und das sollte es ja auch tun. Man lernt etwas dabei, man entwickelt sich dabei, man lernt andere Menschen kennen. Man bekommt unter Umständen mehr Selbstbewusstsein. Und auch hier gilt: diese Erfahrung darf man niemandem vorenthalten.

Haben Sie für Berlin konkrete Zahlen über das Engagement von Menschen mit Behinderung? Und in welchen Feldern engagieren sich Menschen mit Behinderung?

Das Engagement von Menschen mit Behinderung geht tatsächlich über die ganze Bandbreite. Konkrete Zahlen gibt es im Büro des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung nicht.

Es gab letztes Jahr eine Umfrage von Aktion Mensch mit dem Ergebnis, dass sich Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen engagieren. Wird dieses Engagement aus Ihrer Sicht – zum Beispiel auch in Vereinen im Themenfeld Behinderung – gleichwertig in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Ob es in der Öffentlichkeitsarbeit der Vereine gleichwertig wahrgenommen wird, kann ich nicht sagen. Das ist eine Frage, die die Vereine für sich beantworten müssen. Grundsätzlich gilt: auch wenn es sich langsam und punktuell ändert, werden Menschen mit Behinderung noch nicht als gleichwertig in der Gesellschaft wahrgenommen. Es ist unsere Erfahrung, dass sie schon eher die Ratsuchenden sind, die, die man unterstützen muss und im allerschlimmsten Falle werden sie als kostenintensiver Faktor im Haushalt wahrgenommen.

Wenn sich Menschen ehrenamtlich engagieren, die auf den Sonderfahrdienst zurückgreifen, können sie beim Berliner Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen die Erstattung der erhöhten Eigenbeteiligung beantragen. Wie wird diese Option genutzt? Gibt es hier aus Ihrer Sicht noch Verbesserungs- oder Erweiterungsbedarf?

Die Option wird rege genutzt und fast die Hälfte der beantragten Erstattungen bezieht sich tatsächlich auch auf Ehrenamtsfahrten. Wir hoffen einfach, dass diese wichtige Möglichkeit so erhalten bleibt.

Welchen Handlungsbedarf sehen sie im Kontext Ehrenamt/ Freiwilliges Engagement? Müsste es nicht auch hier ein Disability Mainstreaming geben und wie könnte das aussehen?

Die Frage nach einem Disability Mainstreaming finde ich ganz wichtig. Wir haben beim Gender Mainstreaming gesehen, dass es tatsächlich nachhaltig etwas verändern kann. Und wichtig wäre es meines Erachtens, bestimmte Fragen zu formulieren, die man sozusagen als Querschnittsabfrage auf allen Ebenen und in allen Bereichen einsetzen kann.

Das wäre zum Beispiel die Frage, wen habe ich bei der Entwicklung eines Angebots im Blick? Oder auch, wem kommt es zugute? Wen schließt es aus oder wen könnte es ausschließen? Wie gestalte ich meine Öffentlichkeitsarbeit? Ist es völlig selbstverständlich darauf hinzuweisen, dass – bleiben wir mal bei der baulichen Barrierefreiheit – es rollstuhlgerecht ist? Oder kann ein Gebärdensprachdolmetscher für eine Veranstaltung zur Verfügung gestellt werden? Also dass es automatisch bei der Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit mitgedacht wird.

Wer bekommt oder benötigt wann für etwas Geld oder Unterstützung und wie wird das organisiert? Oder auf der Metaebene, bei den rechtlichen Rahmenbedingungen, eine wichtige Frage: Wie werden steuerbefreite Aufwandsentschädigungen im Leistungsbereich SGB XII behandelt? Sie bekommen ja bei bestimmten Ehrenämtern unter Umständen eine Aufwandsentschädigung und wenn jemand nach dem Rechtskreis SGB XII Leistungen bezieht, dann wird diese unter Umständen auf seine Leistungen angerechnet. Hier gibt es eben immer wieder Fragen: Darf das Geld behalten werden oder wird es angerechnet? Wie belastbar sind die derzeitigen rechtlichen Regelungen? Das sind so Sachen, die man sich halt mit überlegen muss.

Oder auch: Wie gestaltet sich die rechtliche Absicherung, insbesondere für Haftpflicht und Unfallversicherungsschutz? Das ist natürlich auch immer ein Thema für Menschen, die keine Behinderung haben, aber das wären so Fragen, die das Disability Mainstreaming in Angriff nehmen könnte. Wo man also weggeht vom Einzelfall und sagt: so, das ist die Querschnittsaufgabe und das muss für alle Bereiche geregelt werden.

Was würden Sie denn Organisationen raten, die „Disability Mainstreaming“ in Angriff nehmen wollen?

Eigentlich ist es eine Frage der Organisationsentwicklung und da würde ich es auch ansiedeln wollen. Also das heißt, bei den einzelnen Organisationen und Vereinen, dass sie sich überlegen müssen: Wie muss ich mich verändern, dass ich tatsächlich die gesamte Vielfalt unserer Bürgerinnen und Bürger aufnehmen kann? Also dass ich etwas für sie bereitstellen kann. Und zwar in jeglicher Rolle, wie ich das vorhin gesagt haben: als Gebende, als Nehmende, als Aktive, als Passive, als Ratsuchende, als Beratende. Und da wäre die Frage: Ob man sich nicht im Rahmen von Organisationsentwicklung einfach zum Beispiel eine Diversity-Trainerin sucht. Es gibt ja verschiedene Träger, die sich speziell mit diesem Bereich befassen.

Was würden Sie Organisationen empfehlen, die möglichst inklusiv sein wollen bzw. sich für Menschen mit Behinderung öffnen wollen – auch für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen?

Das Thema sollte sicher intern bei den Organisationen anfangen. Also, für wen wollen wir uns öffnen? Es muss ja nicht gleich die ganze Bandbreite sein. Dass man sagt, ich probiere erstmal aus, wie es funktioniert, was sind die Stellschrauben, wo ich was verändern muss. Und dann schaut: welche Einsatzfelder, welche Einsatzbereiche haben wir eigentlich? Dass sie sich darüber im Klaren sind, wie sieht wirklich die Aufgabenbeschreibung aus, die ich bieten kann für jemanden, der sich bei mir freiwillig engagieren möchte. Und dass man dann überlegt, welche Barrieren könnte es geben? Also wer braucht was für welche Beeinträchtigung?

Wenn die Bestandsaufnahme vorliegt, könnte man schauen, was brauche ich an Unterstützung? Was kann ich selber verändern, was kann ich selber leisten, wo brauche ich zusätzlich etwas? Es gibt ja einige Projekte, wo in Tandems gearbeitet wird, gerade im Naturschutzbereich. Und diese Tandems waren wohl auf Dauer angelegt. Das ist sicherlich auch manchmal sinnvoll, weil Ehrenamtsarbeit ja auch viel mit Qualifizierung zu tun hat. Ein Ehrenamt ist ja ein Lernort und es gibt eine ganze Menge Qualifizierungsbausteine. Manchmal sind es Einstiegsqualifizierungen, aber es gibt durchaus auch weitgehende, sehr interessante inhaltliche Veranstaltungen und auch da muss man natürlich überlegen: wie öffnet man sie? Wie müssen sie sich verändern, um Menschen in ihrer gesamten Vielfalt mitzunehmen?

Ja – die Öffentlichkeitsarbeit überprüfen. Dann denke ich, ist es wichtig, dass man gute Beispiele sichtbar macht, um einfach zu zeigen: es geht. Vielleicht auch, was haben wir daraus gelernt? Worauf müssen wir jetzt einfach achten? Außerdem ist es immer authentisch, wenn jemand selber sagen kann: Naja, das und das war mein Start und am Anfang war ich ein bisschen ängstlich oder ich war gar nicht ängstlich, das hat aber alles so und so funktioniert. Oder die und die Hürden musste man überwinden. Oder eigentlich ist es alles viel besser gelaufen, ich habe mir ganz umsonst einen Kopf gemacht. Es gibt ja verschiedene Wege. Und das man das aber auch stärker sichtbar macht.

 

Foto: Elisabeth Gregull

März 2014

 

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