„Ich werde solange rumstochern, bis die Menschen die Ohren aufmachen“

Mohammed Nasser hat seinen Verein nach seiner Tochter Huda benannt. HUDA steht auch für ‚Hürden überwinden durch Austausch‘. Denn als sein drittes Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt kam, stieß Mohammed Nasser auf Schweigen, Vorurteile und verschlossene Türen. 

Von Elisabeth Gregull

Mohammed_und_Huda_NasserMohammed Nasser lebt mit seiner Familie in Neukölln, wo er hauptamtlich beim Nachbarschaftsheim arbeitet. Mit seinem ehrenamtlichen Engagement will er Familien unterstützen, die in einer ähnlichen Situationen sind wie er selbst. Aber er will auch gesellschaftlich etwas verändern. Deswegen organisiert er interreligiöse Dialoge zu Themen wie „Behinderung“ und „Psychische Krankheiten“, bietet Workshops in Schulen an und berät zu interkultureller Öffnung. Ihn unterstützten auch Väter mit gesunden Kindern wie Kudret Cankaya. Ein Gespräch über die interkulturelle Vätergruppe, über Inklusion und den Mut, immer weiterzumachen.

 

Das Foto von Mohammed Nasser und seiner Tochter hat uns Marlies Föllmer zur Verfügung gestellt.

 

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Textfassung des Audiobeitrags

„Ich werde solange rumstochern, bis die Menschen die Ohren aufmachen“

Mohammed Nasser hat seinen Verein nach seiner Tochter Huda benannt. HUDA steht auch für ‚Hürden überwinden durch Austausch‘. Denn als sein drittes Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt kam, stieß Mohammed Nasser auf Schweigen, Vorurteile und verschlossene Türen. 

Von Elisabeth Gregull

Jeden Freitag kann man Mohammed Nasser in einem kleinen Ladenlokal in der Glasower Straße antreffen. Hier arbeitet er normalerweise hauptamtlich beim Nachbarschaftsheim Neukölln. Freitags aber kann er das Büro auch für seine ehrenamtliche Tätigkeit für Huda e.V. nutzen – einen Verein, den er gründete, nachdem sein drittes Kind mit einer schweren Behinderung auf die Welt kam.

„Ich wollte etwas ins Leben rufen, was bleibt. Also der Verein heißt Huda und so heißt auch meine Tochter. Aber die vier Buchstaben stehen für „Hürden überwinden durch Austausch“. So dass es nicht nur eine persönliche Sache ist. Falls ich nicht mehr da bin oder falls eines Tages meine Tochter nicht mehr da ist, dass ihr Name weiterlebt in etwas Gutem. Und das, was wir machen, gab es vorher noch nicht.“

Die erste Zeit nach der Geburt von Huda war sehr schwer, erzählt Mohammed Nasser. Zwar erklärten ihm die Ärzte ihre Krankheit und er verstand sie auch. Aber ihm fehlten Begriffe auf Arabisch. Und so konnte er Familie und Freunden seine Sorgen nicht gut verständlich machen. Er merkte dann,

„dass es nicht nur an mir oder meiner Familie liegt, sondern dass es eigentlich überhaupt kein Gesprächsthema ist, Behinderung, in der arabischen Community. Nach einer Zeit der Trauer, Angst und Sorge habe ich mir gedacht, das darf so nicht bleiben.“

Sein Bruder regte ihn an, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Aber das war leichter gesagt als getan – denn fast niemand wollte reden. Und bestehende Angebote richteten sich im Prinzip an Frauen. Erst Schritt für Schritt konnte er seine eigene Idee verwirklichen: eine interkulturellen Vätergruppe für Männer mit und ohne behinderte Kinder. Er entschied sich, dem verbreiteten Schweigen einen offenen Umgang mit dem Thema entgegenzusetzen und baute ein Netzwerk in viele Richtungen auf. Etwa zum Fachforum „Behinderung und Migration“ der AWO.

„Ich war für diese Gruppe auch wichtig gewesen, denn als ich aus meiner Erfahrung gesprochen habe, waren alle verwundert und auch erfreut. Weil sie sonst wenig die Möglichkeit hatten, dass jemand so offen darüber redet.“

2011 war es dann soweit: Huda wurde ein eingetragener Verein und berät seitdem in mehreren Sprachen, bietet Gesprächskreise und Freizeitaktivitäten an. Huda organisiert auch interreligiöse Dialoge zu Themen wie „Behinderung“ oder „Psychische Krankheiten“ in Moscheen und Kirchen. Mohammed Nasser ist dies ein besonderes Anliegen. Denn er selbst wurde oft mit Aussagen konfrontiert, die Behinderung seiner Tochter sei eine Art Besessenheit oder eine Strafe für seine Sünden. Wenn man ihn vor sich sieht, ihn in seiner ruhigen, aber bestimmten Art reden hört, mag man kaum glauben, dass Mohammed Nasser zwanzig Jahre in der Gastronomie gearbeitet und „ein wildes Leben“ geführt hat, wie er sagt. In Momenten des Zweifels hatte er tatsächlich Sorge, die Krankheit seiner Tochter sei eine Strafe für diese Zeit. Aber, so wurde ihm dann schnell klar, …

„es gibt keinen Gott, der Menschen mit anderem Leid bestraft. Erst recht nicht, dass er ein Kind mit Schmerzen auf die Welt bringt, damit er seine Eltern bestraft für ihre Sünden. Das war dann unsere hauptsächliche Arbeit.“

Er fand in Neukölln eine Moschee und einen sehr offenen Imam. So entstand eine Zusammenarbeit, mit der er viele Menschen erreichen kann. Um ins Gespräch zu kommen, aufzuklären und Berührungsängste abzubauen.

„Das habe ich mir dann zu meiner Lebensaufgabe gemacht, diese Ängste den Menschen wegzunehmen, indem ich immer wieder Aktionen mache. Vor kurzem hatten wir auch einen großen interreligiösen Dialog in einer Moschee, ohne große Einladung und Werbung. Und da kamen 110 Leute.“

Anwesend sind auch eine evangelische Pfarrerin und ein arabischsprachiger Facharzt, der die medizinische Seite erklärt. Im Christentum gab es ebenfalls lange die Vorstellung, Behinderung sei eine Art Besessenheit. Mohammed Nasser meint, dass die Selbsthilfe-Bewegung und die Behindertenbewegung in Deutschland hier einiges verändert haben. Das Wort „Selbsthilfe“ gibt es im Arabischen nicht – Mohammed Nasser möchte mit seiner Arbeit betroffene Familien dazu bringen, medizinische und pflegerische Hilfe anzunehmen. Allerdings ist ihm wichtig zu betonen, dass auch deutsche Familien Probleme haben, sich Hilfe zu suchen:

„Warum kommen die Migranten nicht, ja? Das war das, was mich in den letzten Jahren immer geärgert hat. Es liegt nicht nur an den Migranten, sondern an den Personen, an den Menschen. Das haben wir beim Deutschen genauso. Bei uns wird das immer dramatisiert.“

Und es ärgert ihn auch, dass er als muslimischer Mann häufig mit negativen Zuschreibungen leben und sich rechtfertigen muss. Das sei auch ein Grund, warum es den Verein Huda gibt. Mohammed Nasser fordert eine interkulturelle Öffnung von sozialen und pflegerischen Diensten, aber auch von Selbsthilfegruppen. Er meint, dass sich einige in ihre Communities zurückziehen, weil sie dort so angenommen werden, wie sie sind. In deutschen Institutionen indes werden sie oft von oben herab behandelt und als nicht dazugehörig angesehen:

„Und bei den Deutschen bin ich immer noch der Araber. Und dann gibt es immer die schöne Frage: Wo kommen Sie her? Ja, und da antwortet man immer das Falsche irgendwie, habe ich das Gefühl. Ich bin hier groß geworden, ich habe einen deutschen Pass. Wenn ich sage, ich bin Deutscher, dann können Sie sich vorstellen, was die nächste Frage ist. Wo kommen Sie „eigentlich“ her? Sage ich, ich bin Araber und Palästinenser, ja, Sie sind doch schon so lange hier, warum sagen Sie nicht deutsch? Also egal, wie man’s macht, macht man es nie richtig. Und das erleben migrantische Familien tagtäglich.“

Huda sieht sich hier als Brücke – und berät auch zu interkultureller Öffnung. Zwölf Männer engagieren sich derzeit bei Huda. Einer von ihnen ist Kudret Cankaya, Vater dreier gesunder Kinder. Er lernte Mohammed Nasser im Elterncafé der Grundschule seiner Kinder kennen und bewunderte, dass dieser trotz eines pflegebedürftigen Kindes regelmäßig kam. Ihm wurde erst durch diese Bekanntschaft klar, dass Familien mit behinderten Kindern praktische Hilfe im Alltag brauchen. Und nach und nach veränderte sich sein Blick auf seine Umgebung. Zum Beispiel, wenn er seinen kleinen Sohn auf den Spielplatz begleitete.

„Aber mir ist bis dahin nie aufgefallen, da ist nie ein behindertes Kind dabei. Das fällt einem nie auf, bis man sich nicht damit befasst hat. Ich denke mal, das ist auch für meine Kinder wichtig gewesen, die haben auch Huda kennengelernt und gehen damit jetzt bestimmt auch anders um.“

Kudret Cankaya blickt nun anders auf viele Lebensbereiche. Wo zum Beispiel Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen arbeiten könnten, wenn es dort eine größere Offenheit und eventuell bauliche Veränderungen oder technische Hilfsmittel gäbe. Er sieht sein ehrenamtliches Engagement bei Huda deswegen nicht nur als Hilfe für andere, sondern auch als Nachhilfe für ihn in Sachen Inklusion.

„Es geht wirklich darum, den Familien zu helfen in der schwierigen Situation. Auch Familien zu helfen wie mich, sag ich jetzt mal, die gesunde Kinder haben, aber das Thema zu verstehen.“

Er unterstützt Mohammed Nasser nicht nur privat, sondern auch bei Veranstaltungen oder beim Rollstuhl-Parcours auf dem großen Kinderfest „23. Nissan“. Die Väter im Verein haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe.

„Das ist auch wichtig, dass wir international sind, dass wir mehrsprachig sind. Auch wenn jetzt jemand aus Rumänien kommt und hat ein behindertes Kind und hat Sprachprobleme. Wir haben ein Mitglied bei uns, der dann helfen könnte und übersetzen kann.“

Konkrete Hilfe im Alltag und das große Thema Inklusion von Menschen mit Behinderungen – für beides ist die Offenheit von Menschen ohne Behinderung notwendig, findet Mohammed Nasser:

„Wir müssen wirklich gesellschaftlich versuchen, etwas zu verändern. Und deswegen bin ich ja so stolz, dass ich mehrere Väter habe wie Kudret, die wirklich selbst nicht betroffen sind, aber dabei gesehen haben, wie wichtig das ist, dass man diesen Menschen oder Familien hilft. Weil nur wenn alle sich irgendwann öffnen, kann das auch funktionieren.“

Das gilt auch für Schulen, wo Huda Workshops durchführt, über verschiedene Behinderungen aufklärt und sensibilisiert. Ein Ansatz, den der Verein gern ausbauen will. Huda hat vieles und viele erreicht in den drei Jahren, hat Unterstützung erfahren durch Menschen und Institutionen, die Zeit oder Räume zur Verfügung stellen – wie etwa das Haus der Begegnung der Diakonie in Neukölln. Mohammed Nasser hofft, dass er noch mehr Menschen für seine Arbeit für mehr Inklusion gewinnen kann. Seine Erfahrungen mit baulichen und anderen Barrieren bringen ihn zu einem eigenen Bild von Inklusion:

„Wir reden immer von Inklusion, aber es gibt immer noch einen zweiten Eingang für behinderte Menschen. Und das ist, wo ich sage, solange es diese zwei Eingänge gibt, solange wird es keine Inklusion geben.“

Seine Tochter Huda hat Mohammed Nasser verändert, sagt er. Sie habe ihm gezeigt, was wichtig im Leben ist. Und ihm die Motivation gegeben, auch in Zeiten des Zweifels oder der mühseligen Kämpfe, immer weiterzumachen.

„Ich habe mir das Sture von meinem Kind abgeguckt. Meine Kleine kämpft, seitdem sie auf der Welt ist, kämpfen wir wirklich fast tagtäglich um ihr Leben. Und dann habe ich gesehen manchmal, in was für schwierige Phasen wir gekommen sind und wie sie immer wieder rausgekommen ist. Und trotzdem leben wollte und dafür gekämpft hat. Und dann habe ich gesagt: Okay, das ist für mich mein innerlicher Kampf. Ich werde solange rumstochern, bis die Menschen die Ohren aufmachen.“

 

September 2013